20 Jahre JBÖS
20 Jahre Jahrbuch Öffentliche Sicherheit (JBÖS)
Öffentliche Sicherheit hat Konjunktur
Der neue Band 2020/21 setzt sich direkt mit den schärfsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik durch den Pandemie-Notstand auseinander (vgl. den Schwerpunkt „ ,Ausnahmezustand‘ “ im JBÖS 2020/21). Als wir vor rund zwanzig Jahren, kurz nach dem „11. September“, ein „Jahrbuch“ für „Öffentliche Sicherheit“ beschlossen, war uns zwar klar, dass „Sicherheit“ Konjunktur haben wird, aber in diesem Ausmaß ahnten wir das natürlich nicht – von „Corona“ ganz zu schweigen. Inzwischen ist das Thema „Sicherheit“ regelrecht „explodiert“, sodass auch in den großen sozial- und rechtswissenschaftlichen Fachverlagen eigene Reihen und z. T. neue Zeitschriften entstanden sind. Da das JBÖS hier „früh“ unterwegs war, hat es sich rasch ganz ordentlich etablieren können und wurde bald auch über den Sicherheitsdiskurs i. e. S. hinaus als „wichtiges politik- und rechtswissenschaftliches Forum zur Erörterung demokratiepolitischer und sicherheitsrelevanter Fragen“ angesehen (so die ZPol 2009 zum JBÖS 2008/09). So lag es schließlich nahe, den Leserkreis noch breiter aufzustellen und seit 2016/17 über unseren Hausverlag für Polizeiwissenschaft hinaus das JBÖS in Kooperation mit dem Nomos-Verlag zu publizieren.
Paradigmenwechsel zur Neuen Sicherheit
Nun ist das JBÖS nicht bloß als Reflex auf die damaligen Terroranschläge und die „neue“ asymmetrische „Kriegsführung“ entstanden. Der Paradigmenwechsel zur „Neuen Sicherheit“ (vgl. den Schwerpunkt „Theorie der Sicherheit und Methodik der Analyse“ im JBÖS 2004/05 sowie JBÖS-Sonderband 6: Neue Sicherheit, 3 Bde., 2. Aufl., Frankfurt am Main 2012) hatte sich längst angekündigt und stellenweise schon vollzogen. Das neue NATO Konzept von 1999 mit seinem „erweiterten Sicherheitsbegriff“ war hiervon ebenso Ausdruck wie die große „Out-of-Area-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts von 1994 oder die Euphorie um eine „Neue Weltordnung“ nach Ende des Ost-West-Konflikts und ihr auf dem Fuße folgendes erstes Desaster: die gescheiterte „humanitäre Intervention“ der USA in Somalia gleich zu Beginn der 1990er Jahre. Die Vereinten Nationen entdeckten nun die Polizeikomponente mit der Erweiterung des „Peacekeeping“ zum „Policekeeping“ und seitdem gibt es die Beteiligung Deutschlands an internationalen Polizeieinsätzen (vgl. den Schwerpunkt „Auslandseinsätze“ im JBÖS 2010/11). Umgekehrt erodiert die klassische Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit auch nach „innen“: vom Einsatz der Bundeswehr bei besonderen Terrorlagen, den das Bundesverfassungsgericht schließlich in der Plenarentscheidung „Luftsicherheit“ freigab (vgl. den Schwerpunkt „Luftsicherheit kontrovers“ im JBÖS 2012/13), bis hin zur Zusammenarbeit der sicherheitsrelevanten Behörden in den „Zentren“ (vgl. den Schwerpunkt „Zukunft der deutschen Sicherheitsarchitektur“ im JBÖS 2018/19).
Dauerthema (Rechts-)Extremismus und (wehrhafte) Demokratie
Neben dem islamistischen Extremismus witterte innenpolitisch schon im Schatten der deutschen Einheit der Rechtsextremismus vor allem in den östlichen Bundesländern mit „neuer“ Penetranz Morgenluft. Die Analyse des politischen Radikalismus / Extremismus ist von Anfang an eine wichtige und eigenständige Rubrik des JBÖS gewesen – sei es „links“, „rechts“ oder sei es „islamistisch“, wenngleich der Rechtsextremismus und der „Islamismus“ im Laufe der Zeit immer stärker berücksichtigt wurden. Das spiegelt bis heute einfach die Realität wider. Schon im ersten JBÖS war über das gescheiterte NPD I-Verbotsverfahren und auch danach regelmäßig über den Schutz der Demokratie (vgl. den Schwerpunkt „Wehrhafte Demokratie“ im JBÖS 2008/09 sowie „Demokratieschutz“ im JBÖS 2016/17) bis hin zur aktuellen Debatte um die Verfassungsfeindlichkeit rechtpopulistischer Parteien (vgl. den Schwerpunkt „Verfassungsfeindlichkeit der AfD?“ im JBÖS 2018/19) zu berichten. Der Rechtsextremismus ist Dauerthema geblieben, erlebte einen traurigen Höhepunkt mit dem „NSU“ (vgl. Schwerpunkt „Rechtsterrorismus“ im JBÖS 2012/13 sowie „NSU und Reform der Sicherheitsarchitektur“ im JBÖS 2014/15) und ist aktuell Thema bei der Polizei selbst bzw. weiteren Sicherheitsbehörden (vgl. den Schwerpunkt „10 Jahre nach dem NSU“ sowie den einführenden Essay im JBÖS 2020/21).
Privatisierung von Sicherheit
Schon in den 1990er Jahren verstärkten sich zwei „großpolitische“ Trends: „Privatisierung“ und „Europäisierung“; beides hatte erhebliche Rückwirkungen auf den Bereich „Innere Sicherheit“. „Grenzen der Privatisierung“, „Community Policing“ und „Privatisierung im Strafvollzug“ sind einige der Themen, mit denen sich im weiteren Verlauf die Beiträge im JBÖS hinsichtlich der Schnittstelle von öffentlicher und privater Sicherheit auseinandersetzten. Während die „neo-liberale“ Privatisierungsdiskussion in den letzten Jahren eher abflaute, hat sich das Thema „Europäisierung“ seit „Maastricht“ und dann „Lissabon“ weiter intensiviert.
Motor der Europäisierung und „Dialektik“ bei der Zuwanderung
Mit Blick auf die EU wird bisweilen von der Sicherheit sogar als dem eigentlichen neuen Motor der europäischen Integration gesprochen. Im JBÖS führte das nicht nur zur regelmäßigen Thematisierung von „Schengen“, „Europol“, „Frontex“, „EU-Haftbefehl“ etc. in einer eigenen Rubrik. Die Forcierung dieser Entwicklung war auch dafür ausschlaggebend, überhaupt eine Sonderbandreihe des JBÖS mit ausgewählten Schwerpunkten aufzulegen, die sogleich mit diesem Thema eröffnete (vgl. JBÖS-Sonderband 1: Europäisierung und Internationalisierung der Polizei, 3 Bde, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2011-12). Zugleich zeigt die Entwicklung der EU eine eigentümliche Dialektik von „Vertiefung“ und „De-Europäisierung“; das nicht nur in puncto „Brexit“: In der sog. „Flüchtlingskrise“ fuhr das „Dublin-System“ gegen die Wand. Ein europäisch-menschenrechtlicher Grenzschutz, flankiert durch ein EU-Flüchtlings- und Migrationsregime mit eigenen Behörden und Hoheitsrechten fehlt nach wie vor, obwohl seine Dringlichkeit 2015 kaum dramatischer vor Augen stehen konnte. Auch bei der „Europäisierung/Internationalisierung“ des öffentlichen Dienstes gibt es ein Spannungsverhältnis, nämlich zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Jedenfalls besteht bei deutschen Sicherheitsbehörden – wie schon zuvor in puncto „Frauen“ – hier ein nicht unerheblicher Modernisierungsrückstand. Denn „Europäisierung“ bedeutet ja nicht nur nach „außen“ betrachtet Kooperation zwischen den Staaten und Übertragung von Hoheitsrechten auf supranationale EU-Institutionen. Das Thema „Migration“ bildete daher gleich zweimal einen eigenen Schwerpunkt im JBÖS (vgl. den Schwerpunkt „Migration und Integration“ im JBÖS 2010/11 und „Flüchtlingskrise“ im JBÖS 2016/17 sowie den JBÖS-Sonderband 5: Migration, Integration und europäische Grenzpolitik, Frankfurt a.M. 2011).
Ständige Ausweitung von (Polizei-)Befugnissen
Die zahlreichen „Sicherheitspakete“ der beiden letzten Jahrzehnte, die noch unter der rot-grünen Bundesregierung als „Ottokataloge“ begannen (benannt nach dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily [SPD]), haben zweierlei gezeigt: erstens, dass sich dieser Wandel in der deutschen Innenpolitik nahezu unabhängig von der politischen „Farbenlehre“ vollzieht, und zweitens, dass er in Richtung „mehr“ Sicherheit geht. Damit sind – schon lange vor „Corona“ – erhebliche Einschränkungen der Menschen- und Bürgerrechte verbunden und seit einigen Jahren vergeht kaum Zeit, ohne dass das Bundesverfassungsgericht hier nicht wieder eine neue Grundsatzentscheidung gefällt hat. Ob „Rasterfahndung“, „Luftsicherheit“, „Computergrundrecht“ und „Sicherungsverwahrung“ oder ob „Vorratsdatenspeicherung“ und „neue Polizeigesetze“ (vgl. den Schwerpunkt „Neue Polizeigesetze und Ausweitung der Befugnisse“ im JBÖS 2018/19 sowie „(Muster-)Polizeigesetz und Polizeirecht“ im JBÖS 2020/21) – das seitens der Politikwissenschaft lange Jahre kaum wahrgenommene Politikfeld „Innere Sicherheit“ erlebte einen regelrechten Forschungsboom und das unter Staats- und Verfassungsrechtlern über Jahre als „langweilig“ verschriene Polizeirecht gilt inzwischen als „aufregend“.
Sicherheit und Menschenrechte
Als Herausgeber des JBÖS, vor allem aber auch als Dozenten an einer Polizeihochschule für die politik- und rechtswissenschaftlich geprägten Studienfächer der „Staats- und Gesellschaftswissenschaften“ hätten wir dabei jedoch ganz gerne auf die eine oder andere Aufregung verzichtet: Regelrecht erschrocken waren wir, als das gerade für eine rechtsstaatliche und demokratische Polizei so zentrale Tabu der Folter in der politischen und sogar rechtswissenschaftlichen Diskussion im „neuen“ Carl Schmittschen „Guantanamo-Freund-Feind-Recht“ um „lebensrettende Aussageerzwingung“, „Ausnahmezustand“ und „Bürgeropfer“ drohte, enttabuisiert zu werden. Zu Recht hatte Verfassungsrichter Udo Di Fabio in seiner Rede in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik vom 6. November 2007 ausdrücklich davor gewarnt. Manch einem Außenstehenden, der hier gerne meint, mal „nur“ einen akademischen Streit führen zu können, ist vielleicht gar nicht bewusst, welche Rückwirkungen solche Diskussionen gerade auf Polizei (und Militär) haben können: Im Zuge dieser „Debatten“ wurden wir direkt von Studierenden angefragt, ob man aus „praktischer Sicht“ hierzu nicht mal eine Diplomarbeit machen, also – polemisch formuliert – die Wiedereinführung der „Daumenschraube“ schon mal rasch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit „durchprüfen“ könnte. Eine schwerpunktmäßige Auseinandersetzung mit der Gefährdung von Menschenrechten war daher schnell überfällig und erfolgte schon im zweiten Band des JBÖS (vgl. den Schwerpunkt „Menschenwürde und Sicherheit“ im JBÖS 2004/05 sowie den JBÖS-Sonderband 14: Menschenrechte und Sicherheit, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2018).
Kritische Polizeiwissenschaft(en)
Die Initiierung des Jahrbuchs ist mit der Absicht verbunden gewesen, die Debatte um „Öffentliche Sicherheit“ zu forcieren, auch mit Blick auf Ausbildungsgänge, in denen Wissenschaften und „Theorie“ einen nicht gerade leichten Stand haben (vgl. den Schwerpunkt „Polizeiwissenschaft“ schon im ersten JBÖS 2002/03 sowie den JBÖSSonderband 7: Polizeiwissenschaft, 5 Bde., Frankfurt a.M. 2011 ff.). Denn trotz der (verspäteten) Einführung des Hochschulstudiums gilt für die Ausbildung bei der Polizei z.T. immer noch das geflügelte Wort, dass hier Polizisten (und endlich, wie auch im JBÖS thematisiert: Polizistinnen) von Polizisten lernen, was Polizisten von Polizisten gelernt haben – oder eben von „praxisfallbezogenen“ Jurist*innen. Daher sollte das JBÖS auch eine neue „Polizeiwissenschaft“ voranbringen – so schon der allererste Themenschwerpunkt im JBÖS 2002/03 – und Baustein eines zu errichtenden Netzwerks der „Forschung Innere Sicherheit“ sein. Um die Forschungsleistung steht es, wie eingangs festgestellt, inzwischen gut, auch wenn noch über „Polizeiwissenschaft“ gestritten wird und die institutionellen Forschungsbedingungen gerade an den Polizeihochschulen immer noch überwiegend katastrophal sind. Der Befund sozialwissenschaftlicher Fächer (i. w. S.) aber bleibt im Studium ambivalent: Die juristische Fallarbeit dominiert nach wie vor – und die „Einsatzlehre“, die zwar wichtiges Handwerkszeug ist, kaum aber mit Riesendeputaten in die Hochschulausbildung, sondern eben in die Praxis gehört. Die Polizeigeschichte hat zwar curricular mit Jahren Verspätung eine Aufwertung erfahren, ist aber im Studium meist randständig. In manchen Fächern ist es zudem nie gelungen, richtig Fuß zu fassen (so wird z. B. das Fach „Berufsethik“ an manchen Polizeihochschulen immer noch von Polizeipfarrern gelehrt, obwohl man hierfür professionelle – und konfessionell neutrale – Philosoph*innen benötigte. Ebenso fehlt zumeist eine Anbindung des Fachs Kriminologie an die Soziologie). Durch die „Bachelorisierung“ schließlich ist die Tendenz eines „Rollbacks“ weiter gestiegen, die Ausbildung wieder in Richtung „Paukschule“ und „Beamtenprägeanstalt“ zu bewegen.
Vielen Dank Professor Clemens Lorei – und allen Autorinnen und Autoren!
Unser seinerzeitiger Plan, das JBÖS zu machen, traf auf den kurz zuvor gegründeten, wissenschaftlich ambitionierten „Verlag für Polizeiwissenschaft“, der das Vorhaben bereitwillig aufgriff – und dessen Ausrichtung und Repertoire das „hausbackene“ Programm anderer Polizeiverlage um Längen hinter sich gelassen hat. 20 Jahre JBÖS ist schließlich auch ein Anlass, sich erneut bei unserem Verleger Clemens Lorei für die vertrauensvolle und zuvorkommende Zusammenarbeit zu bedanken – und natürlich bei den inzwischen mehr als 300 Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland, die insgesamt rund 500 Aufsätze beigetragen haben. Das JBÖS wird auch weiterhin nur alle zwei Jahre erscheinen. Das hat einerseits den Vorteil, Entwicklungen schon in der mittelfristigen Bedeutung jenseits ihrer Medienaktualität klarer erfassen zu können. Zugleich ist es dem Umstand geschuldet, dass wir bisher jede Ausgabe ohne Hilfskräfte oder sonstige Entlastung neben dem üblichen Lehrbetrieb komplett selber machen (mussten); hierin spiegeln sich also auch – entgegen öffentlicher „Sonntagsreden“ zu Bildung, Wissenschaft und Forschung – einfach die realen Forschungsbedingungen an Polizeihochschulen wider.
Und: „... das Letzte“
Das ist auch einer der Gründe, warum die „Lübecker Expertengespräche“ zuletzt im JBÖS 2016/17 erscheinen konnten (vgl. „’... das Letzte’: 20. Lübecker Expertengespräch zu Staat und Sicherheit in Theorie und Praxis“ im JBÖS 2016/17 sowie gesammelt als 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2017). Der wahre Grund aber hierfür ist, dass Publius d’Allemagne zwischenzeitlich das Land verlassen hatte, um bei den Trump-Anhängern mitzumischen – und weil ihm Haft wegen „Verpöbelung des Volkes“ drohte. Auch sein treuer Kumpan Glaukon Rien zu Pupendorff sitzt schon seit fast einem Jahr, allerdings nur im Lockdown des „coronaverseuchten“ Berlins fest. Er soll jedoch den illegalen Reise-Durchbruch in ein subversives Hotel am Timmerdorfer Beach geschafft haben und auch Publius längst wieder auf dem Rückweg in die deutsche Heimat sein (O-Ton: „die Amis waren mir zu lasch, diese ‚ästhetischen Schlaraffen, ... Fruchtabtreiber, Leichenverbrenner und Pazifisten’“ [Carl Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, Berlin 1991, S. 165]). Gerüchten zufolge wird es bald ein neues „Lübecker Expertengespräch“ geben – natürlich ohne Masken und Sicherheitsabstände.
Herausgeber im November-Lockdown 2020